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„Ich dachte, es ist Liebe“

Erinnerungen an eine gelungene Veranstaltung in Wiesbaden

Am 20. November 2005 trafen sich Interessierte, Fachleute und Überlebende von Missbrauch und Gewalt für einen gemeinsamen Nachmittag im „frauen museum wiesbaden“. Bereits bei einem Vorbereitungstreffen im Oktober hatte sich Kim Engels vom Frauenmuseum bereit erkärt, die Moderation zu übernehmen. Die Veranstaltung fand im zweiten Stock des Museums statt, in einem sehr ansprechenden Raum.

An der Wand bildeten die ausdrucksvollen Zeichnungen des Zyklus „Rosen für Ilse“ von Christine Rieck-Sonntag einen Rahmen, der eine heimelige und angenehme Stimmung bei den Teilnehmern aufkommen ließ. Etwa fünfzig Menschen allen Alters waren gekommen, um gemeinsam mit Betroffenen über Trauma und Heilung zu reden.


Kim Engels begrüßte die Gäste in ihrer offenen und entgegenkommenden Art, um alsbald auf Dagmar Minor überzuleiten, die über den aktuellen Stand der Traumaforschung und -behandlung referierte. Dagmar Minor erklärte in ihrem Vortrag zunächst, was unter Missbrauch und Gewalterfahrung zu verstehen ist und was es für die betroffenen Kinder bedeutet. So viel wird den Kindern angetan, als würden die Menschenrechte für sie gar nicht gelten! Da waren viele Zuhörer doch erstaunt zu erfahren, dass der gefährlichste Ort für Kinder gerade das eigene Zuhause, das familiäre Umfeld ist.

Wenn Kinder und Jugendliche auffällig werden durch grobes Fehlverhalten und Straftaten, liegen ebenfalls meist traumatisierende Ereignisse zugrunde. Dann sollte man nach den Ursachen der Traumata suchen. Denn auch hier gilt es, wenn der Baum krank ist, nicht die Blätter zu polieren, sondern am Wurzelwerk nachzugraben und zu heilen.

Traumatisierung in der Kindheit äußert sich bis ins hohe Erwachsenenalter durch viele Symptome. Denn das Bewußtsein mag die Ursachen und Qualen vielleicht viele Jahrzehnte verdrängen, aber der Körper kann es nicht vergessen. Solche Symptome, die irgendwann aufbrechen, können sein Depressionen, Ängste, Panikattacken, plötzliche Rückerinnerungen, aber auch Borderline-Syndrom, Aufmerksamkeitsstörungen sowie psychsomatische Leiden wie Rückenschmerzen, Migräne, Tinnitus, um nur einige wenige, aber weit verbreitete Leiden zu nennen.

Familien, in denen es zu Gewaltausübung und Missbrauch kommt, unterscheiden sich kaum von anderen Familien in allen Gesellschaftsschichten. Allerdings wird Gewalt und Missbrauch begünstigt in Familien, in denen nicht viel über Gefühle gesprochen wird und die sehr autoritär strukturiert sind.
Die schlimme Vergangenheit, so das Fazit von Dagmar Minor, kann man auch mit der besten Therapie nicht wegnehmen, aber man kann sich ein lebenswertes Leben aufbauen. Die Mühe lohnt sich.
Nach Dagmar Minor sang Sonja ihr ergreifendes Lied „Wenn Du jetzt aufgibst“. Die Zuhörer spürten in ihrem Gesang, welche wichtige Rolle die Musik in ihrem Leben spielt. Ohne ihre Musik, so sagte sie, hätte sie nicht überlebt. Auch sie wurde mit viel Beifall gewürdigt.

Chic und feminin mit grünem Tuch um die Schultern trat jetzt Silvia vors Publikum. So, wie sie sich wohlfühlt. Und genau so, wie sie sich damals für die Konfrontation mit ihrer Mutter auch gekleidet hatte. Alles hatte sie damals minutiös protokolliert. Heute trug sie es ungeschönt vor. Waren die Zuhörenden bis jetzt schon sehr aufmerksam dem Programm gefolgt, nun wurde es ganz still. „Mutter,“ fragte Silvia schließlich in den Raum, „warum hast du mich so geprügelt?“ Darauf die banale Antwort der Mutter: „Ach je, das weiß ich doch heut nimmer.“ „Du weißt das sehr gut! Du hast es doch immer herumerzählt, dass du, als der Kochlöffel abgebrochen war, mit der blosen Hand weiter geschlagen hast. Damals hat es mir sehr weh getan, auch weil ich nicht verstand, was ich getan haben sollte – und heute nicht verstehen kann, als erwachsene Frau und Mutter, wieso du so geprügelt hast!“ Unter den Zuhörenden liefen einige Augen über vor Ergriffenheit und manche erkannten ihre eigenen Fragen an ihre eigene Mutter wieder: „Mutter, warum hast du ihm mehr geglaubt als mir? Warum zählte sein Wort mehr als das deiner Tochter?“ „Mutter, warum hast du nicht zu mir gehalten? Warum hast du mir nicht geholfen?“ „Mutter, ich hätte dich so dringend gebraucht, aber du hast weggehört! Du wolltest das nicht hören!“ Und immer wieder die Ausflüchte der Mutter: „Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.“ „Was soll ich sagen?“ „Das war halt damals so.“ Dass es heute nicht mehr so ist, dafür hat Silvia viele Stunden Therapie geleistet, hat vieles in ihrem Leben hinterfragt, hat große Ängste und Zweifel an ihrem Tun inkauf genommen. Alle im Publikum spürten die Kraft hinter dieser mutigen, aufrechten Frau. Langer und verdienter Beifall dankte es ihr.

Nach der Pause bat Kim Engels Michael Dietz nach vorne. Er berichtete über seinen Weg zur Selbsthilfegruppe „Seelische und körperliche Gewalt in der Kindheit“ und die Arbeit in der Gruppe. Eine Arbeit, die nicht leicht fällt. Verlangt sie doch von den Mitgliedern Selbstdisziplin, Verantwortung, die Bereitschaft, selbst aktiv zu werden, und natürlich Ausdauer. Dabei möchten am liebsten alle in zwei, drei Wochen geheilt sein.

Dafür verspricht die regelmäßige Teilnahme an der Gruppe ihren Mitgliedern einiges Wertvolle:
  • Sie werden wahr genommen, man hört ihnen zu und, ganz wichtig, sie werden verstanden, für viele zu ersten Mal in ihrem Leben.
  • Sie erhalten positive Rückmeldungen, was man gerade an ihnen mag, auch wenn sie das nur schwer einsehen und annehmen können,
  • Sie sind in Ordnung, wie sie gerade sind. Sie müssen nichts leisten, um anerkannt zu werden. Auch das ist für viel neu und ungewohnt.
  • Sie erfahren Erleichterung nicht nur in der Gruppe, sondern können die erworbenen Fähigkeiten im Alltag anwenden und für sich nutzen.
Michael Dietz erzählte weiter von Wut, die vom der ängstigenden, alles zerstörenden Bedrohung zum positiven, kraftgebenden Gefühl wurde, das hilft, Veränderungen in die Wege zu leiten. Er sprach von Pünktlichkeit und einem festen Rahmen, der hilft, Struktur in den Alltag der oft depressiven Betroffenen zu bringen.

So konnte er dem Publikum einen lebendigen Eindruck und eine anschauliche Vorstellung von der Arbeit der Gruppe geben. Auch ihn belohnte lange anhaltender Beifall für seine offenen Worte.

Der erste Teil der Veranstaltung wurde abgeschlossen durch ein Gedicht von Tina:

„Nun sitze ich hier und habe mich wieder nicht in Watte gepackt.“ Sie sprach darin von ihrem Sehnen umarmt und festgehalten zu werden, und danach, das auch auszuhalten und in sich aufzusaugen, ihrem Sehnen nach Vertrauen und einem Menschen, dem sie ihre Gedanken und Gefühle anvertrauen kann, aber auch von der unsichtbaren Mauer aus Panzerglas, die sie wie so viele andere Überlebende umgibt. Ihr Vortrag war sehr authentisch und bewegend. Sie konnte in ihrer Art dem Publikum viel von ihrem Lebensmut vermitteln, weg von aller Verzagtheit. Auch Tinas Vortrag spiegelte traumatisches Geschehen und seine Aufarbeitung wider, wie auch die anderen Vorträge, aus einem jeweils ganz anderen Blickwinkel. Sie wurde mit herzlichem Beifall honoriert und von vertrauten Menschen ganz spontan, dabei behutsam, aber überaus herzlich in die Arme genommen. Ich hoffe, sie konnte es diesmal aushalten und in sich aufsaugen.



Kim Engels leitete jetzt zur Diskussionsrunde über. Sie stellte zunächst Ralf Graner vor, der jetzt in die Runde zu Dagmar Minor, Silvia, Tina und Michael Dietz kam. Er erzählte über seine Buchprojekte, und damit seinen Weg der Aufarbeitung von der Männergruppe hin zu mehr Arbeit in der Öffentlichkeit. Dagmar Minor bemerkte zu Silvias Konfrontation, dass das nicht generell empfohlen werden kann und einer langen Vorbereitungszeit bedarf – und dass es auch komplett schief gehen kann. Es war Silvias eigener Entschluss und ihr ganzer Wille stand dahinter, und sie hatte sich auch eine gute Unterstützung gesucht dadurch, dass ihre Therapeutin bei der Konfrontation als verlässliche, stabile Partnerin dabei war. Fragen aus dem Publikum betrafen die Situation in den Trauma- und Rehakliniken, die durch allgemeine Kürzungen im Gesundheitswesen, gelinde gesagt, nicht einfacher geworden sind. Auch das Ausgeliefertsein dem Klinikapparat gegenüber wurde angesprochen – oft die alte Ohnmacht aus der Kindheit. Eine weitere Frage bezog sich auf die Integration von (Lebens-) PartnerInnen in eine Selbsthilfegruppe. Diese Frage musste leider abschlägig beantwortet werden, niemand hatte damit gute Erfahrungen gemacht. Das sorgsam austarierte Gleichgewicht zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern wird durch die Anwesenheit doch sehr gestört, also besser in einer Art Paartherapie angehen.

So klang der Nachmittag voller menschlicher Wärme und Gefühle nach drei Stunden in einer Ausgewogenheit von Information und Emotion langsam aus. Es wurde noch eine ganze Reihe von interessanten Einzelgesprächen geführt, bis der harte Kern sich endlich aufraffte, die Veranstaltung würdig bei einem leckeren Abendessen zu beschließen. Die Suche gestaltete sich etwas schwierig, weil es sechzehn Uhr war, und die Lokale in der Nähe sich noch der Mittagsruhe hingaben. Aber unsere Ausdauer wurde belohnt; wir fanden ein italienisches Restaurant mit gehobenem Ambiente und freundlicher Bedienung. Ein schöner Abschluss eines erlebnissreichen, mutmachenden und durch und durch positven Tages.

Ich möchte an dieser Stelle den Frauen vom „frauen museum wiesbaden“ danken für die freundliche Aufnahme, den Mitwirkenden für ihre Beteiligung mit Herz und Seele, dem Publikum für das große Interesse und ganz besonders Kim Engels für ihre professionelle Moderation, die uns großen Spaß gemacht hat.

Michael Dietz

Weitere Infos im Faltblatt.