Ich werde es sagen - Geschichte einer mißbrauchten Kindheit | 257  | Autor | Kristian Ditlev Jensen | Verlag | Klett Verlag | ISBN | 3-608-93644-0 | Preisempfehlung | 19,50 € | Website | www.klett-cotta.de/jensen/ | »Ich werde es sagen«, flüsterte ich. Es war ein Gelöbnis. Ein Eid. Ein Fluch. Alles in einem. Ich habe es geflüstert. An jenem Tag lag ich im Doppelbett mit den gestreiften Bezügen. Ein schwacher Geruch nach Sperma, Männerschweiß und Waschmittel lag in der Luft des Schlafzimmers. Das Geräusch des schnarchenden Mannes dicht neben mir. Das weiße scharfe Licht des frühen Sommermorgens. Ich konnte nicht schlafen. Ich wagte nicht zu schlafen. Mehrere Stunden hatte ich dagelegen und mit leerem Blick aus dem Fenster gestarrt. Immer auf dieselbe Sprosse des Fensters im Haus gegenüber. Irgendwann kam mir der Gedanke. Ich werde es sagen. Das hier werde ich eines Tages schon sagen. Ich werde es machen. Ich muss. Ich werde es den Erwachsenen sagen. Der Pausenaufsicht in der Schule. Der Polizei. Dem Staatsminister. Einem, der größer ist als Gustav und deshalb dafür sorgen wird, dass das niemals wieder passiert, was Gustav mir gerade angetan hat. Ich werde es schon sagen, ganz bestimmt. Ab jetzt werde ich aufpassen und mir alles merken. Und dann werde ich alles erzählen.
Aber noch war ich nicht soweit.
Bereits als Teenager habe ich immer wieder darüber geredet, was ich als Kind erlebt hatte. Mit Freundinnen. Mit Freunden. Mit meiner Familie, meinen Eltern. Seit ich es zum ersten Mal meinem Vater und meiner Mutter am Tisch mit dem Wachstuch erzählt habe, war ich der festen Meinung, man müsste doch darüber reden können. Ich wollte nicht verstehen, dass es nur allein mein Problem sein sollte. Dass ich mich ganz allein damit herumschlagen sollte. Kurz nach dem Prozess versuchte ich daher, gemeinsam mit einem sehr fähigen, anerkannten und ausgezeichneten Journalisten ein Buch darüber zu schreiben. Aber letztendlich konnte ich es nicht. Traute mich nicht. Ich kniff.
Noch war ich nicht soweit.
Nach meiner Therapie fing ich an, Leserbriefe darüber zu schreiben. Ich habe Chroniken und Kommentare darüber geschrieben. Ich habe Kolumnen geschrieben, Interviews gegeben und Radiobeiträge darüber verfasst. 1995 schrieb ich eine Novelle darüber. Kurz danach lieferte ich bei einem Verlag sogar einen wilden, verrückten und seltsam kindlichen Roman darüber ab, 250 dicht beschriebene DlN A4-Seilen. Er wurde abgelehnt - aus gutem Grund. Der Versuch, die Wirklichkeit zu erfinden, klappte nicht so recht. Das Buch wirkte - ja, unglaubwürdig. »Erzähl einfach die Geschichte - vergiss alles andere, alles Literarische«, sagte der Lektor vor fünf Jahren.
Aber noch war ich nicht soweit.
Erst im Frühsommer 2000 fühlte ich mich bereit, mich hinzusetzen und das gesamte Rohmanuskript für dieses Buch in einem Monat herunterzuschreiben. Endlich habe ich mich ein für allemal dazu durchgerungen, zu akzeptieren, dass ich weder die Kindheil noch die Jugend, die Gustav mir gestohlen hat, jemals zurückbekomme. Ich habe meine Geschichte aufgeschrieben, so gut ich konnte. Ich habe sie berichtet, so ehrlich ich konnte. Ich habe meinen Bericht so vollständig und klar verfasst, wie ich konnte.
Jetzt bin ich bereit, es zu sagen. Ich hoffe, die Welt ist bereit, zuzuhören. | | | |